Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 10


Während der irrationale Glaube in der Unterwerfung unter eine Macht, die als überwältigend stark, als allwissend und allmächtig empfunden wird, und im Verzicht auf die eigene Kraft und Stärke wurzelt, gründet sich der rationale Glaube auf die entgegengesetzte Erfahrung. Wir besitzen diese Art von Glauben an eine Idee, weil sie das Ergebnis unserer eigenen Beobachtungen und unseres eigenen Den­kens ist. Wir glauben an die Möglichkeiten anderer, unserer selbst und der Menschheit nur deshalb, weil wir das Wachs­tum unserer eigenen Möglichkeiten, die Realität des Wach­sens und die Stärke unserer eigenen Vernunft und unserer Liebesfähigkeit in uns erfahren haben; und wir glauben nur insoweit daran, wie wir diese Erfahrung in uns selbst ge­macht haben. Die Grundlage des rationalen Glaubens ist die Produktivität. Aus dem Glauben heraus leben heißt pro­duktiv leben. Hieraus folgt, dass der Glaube an die Macht (im Sinne von Herrschaft) und an die Ausübung von Macht das Gegenteil des Glaubens ist. An eine bereits existierende Macht glauben ist gleichbedeutend mit der Verleugnung der Wachstumschancen noch nicht realisierter Möglichkei­ten. Bei der Macht handelt es sich um eine Voraussage auf die Zukunft, die sich lediglich auf die handgreifliche Ge­genwart gründet und die sich als schwere Fehlkalkulation herausstellt. Sie ist deshalb völlig irrational, weil sie die menschlichen Möglichkeiten und das menschliche Wachs­tum nicht berücksichtigt. Es gibt keinen rationalen Glau­ben an die Macht. Es gibt nur eine Unterwerfung unter die Macht oder – von Seiten derer, die sie besitzen – den Wunsch, sie zu behaupten. Während Macht für viele das Allerrealste auf der Welt zu sein scheint, hat die Geschichte der Menschheit bewiesen, dass Macht die unstabilste aller menschlichen Errungenschaften ist. Da aber Glaube und Macht sich gegenseitig ausschließen, werden alle Religio­nen und alle politischen Systeme, die ursprünglich auf ei­nen rationalen Glauben gründeten, schließlich korrupt und verlieren ihre Stärke, wenn sie sich auf ihre Macht verlassen oder sich mit der Macht verbünden.

Glauben erfordert Mut. Damit ist die Fähigkeit gemeint, ein Risiko einzugehen, und auch die Bereitschaft, Schmerz und Enttäuschung hinzunehmen. Wer Gefahrlosigkeit und Sicherheit als das Wichtigste im Leben ansieht, kann keinen Glauben haben. Wer sich in einem Verteidigungssystem verschanzt und darin seine Sicherheit durch Distanz und Besitz zu erhalten sucht, macht sich selbst zum Gefange­nen. Geliebt werden und lieben brauchen Mut, den Mut, bestimmte Werte als das anzusehen, was »uns unbedingt angeht«, den Sprung zu wagen und für diese Werte alles aufs Spiel zu setzen.

Dieser Mut ist etwas völlig anderes als der Mut, von dem der Angeber Mussolini sprach, wenn er sich des Schlag­worts »Lebe gefährlich!« bediente. Sein Mut war der Mut des Nihilismus. Er wurzelte in einer destruktiven Einstel­lung zum Leben, in der Bereitschaft, sein Leben weg zuwerfen, weil man nicht fähig ist, es zu lieben. Der Mut der Verzweiflung ist das genaue Gegenteil des Muts der Liebe, genauso wie der Glaube an die Macht das Gegenteil des Glaubens an das Leben ist.