Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 11


Kann man Glauben und Mut irgendwie üben? Glauben kann man tatsächlich jeden Augenblick üben. Man braucht Glauben, um ein Kind zu erziehen; man braucht Glauben, um einschlafen zu können; man braucht Glauben, um mit irgendeiner Arbeit anzufangen. Aber wir alle pflegen ja die­se Art von Glauben zu besitzen. Wer ihn nicht hat, leidet an einer Überängstlichkeit in Bezug auf sein Kind, oder er lei­det an Schlaflosigkeit oder an der Unfähigkeit, eine pro­duktive Arbeit zu leisten; oder er ist misstrauisch, hat Hemmungen, mit anderen in Kontakt zu kommen, ist hypochondrisch oder unfähig, etwas auf längere Zeit hinaus zu planen. Zu seinem Urteil über einen Menschen auch dann zu stehen, wenn die öffentliche Meinung oder ir­gendwelche unvorhergesehenen Ereignisse den Anschein erwecken, dass man sich irrte, an seinen Überzeugungen festzuhalten, auch wenn sie unpopulär sind – zu alldem ist Glauben und Mut nötig. Die Schwierigkeiten, Rückschläge und Kümmernisse des Lebens als Herausforderung anzuse­hen, deren Überwindung uns stärkt, anstatt sie als unge­rechte Strafe zu betrachten, die wir nicht verdient haben, das erfordert Glauben und Mut.
Das praktische Üben von Glauben und Mut fängt bei den kleinen Dingen des täglichen Lebens an. Die ersten Schritte hierzu sind: darauf zu achten, wo und wann man den Glauben verliert, die Rationalisierungen zu durch­schauen, deren man sich bedient, um diesen Glaubensver­lust zu verdecken, zu erkennen, wo man sich feige verhält und welche Rationalisierung man hierbei anwendet, zu merken, wie jeder Verrat am Glauben uns schwächt und wie jede neue Schwächung zu einem neuen Verrat führt und dass dies ein Teufelskreis ist. Dann werden wir auch erken­nen, dass wir bewusst zwar Angst haben, nicht geliebt zu wer­den, dass wir uns aber in Wirklichkeit – wenngleich meist unbewusst – davor fürchten, zu lieben. Lieben heißt, dass wir uns dem anderen ohne Garantie ausliefern, dass wir uns der geliebten Person ganz hingeben in der Hoffnung, dass un­sere Liebe auch in ihr Liebe erwecken wird. Liebe ist ein Akt des Glaubens, und wer nur wenig Glauben hat, der hat auch nur wenig Liebe. Kann man noch mehr über die Pra­xis des Glaubens sagen? Vielleicht kann ein anderer es. Wenn ich ein Dichter oder ein Prediger wäre, könnte ich es vielleicht versuchen. Aber da ich beides nicht bin, kann ich nicht einmal den Versuch machen, wenn ich auch meine, dass jeder, dem es wirklich am Herzen liegt, glauben zu ler­nen, es auch lernen kann, so wie ein Kind das Laufen lernt.
Eine Haltung jedoch, die für die Ausübung der Kunst des Liebens unentbehrlich ist und die wir bisher nur neben­bei erwähnt haben, sollte an dieser Stelle ausdrücklich dis­kutiert werden, da sie die Grundlage für die Praxis des Liebens ist: die Aktivität im Sinne des aus sich heraus Tätigseins. Ich erwähnte bereits, dass Aktivität nicht so zu verste­hen ist,- dass man »sich irgendwie beschäftigt«, sondern als inneres Tätigsein, als produktiver Gebrauch der eigenen Kräfte. Liebe ist ein solches Tätigsein, eine solche Aktivität. Wenn ich liebe, beschäftige ich mich ständig auf aktive Wei­se mit der geliebten Person, aber nicht nur mit ihr allein. Denn ich würde die Fähigkeit verlieren, aktiv mit ihr in Be­ziehung zu treten, wenn ich träge wäre, wenn ich mich nicht beständig im Zustand der Aufnahmebereitschaft, der Wachsamkeit und Aktivität befände. Der Schlaf allein ist ein legitimer Zustand der Inaktivität; im wachen Zustand sollte man der Trägheit keinen Platz einräumen. Sehr viele befin­den sich heute in der paradoxen Situation, dass sie halb schlafen, wenn sie wach sind, und halb wachen, wenn sie schlafen oder schlafen möchten. Ganz wach zu sein ist die Voraussetzung dafür, dass man sich selbst und andere nicht langweilt – und tatsächlich gehört es ja zu den wichtigsten Vorbedingungen für die Liebe, dass man sich weder gelang­weilt fühlt noch den anderen langweilt. Den ganzen Tag lang im Denken und Fühlen, mit Augen und Ohren tätig zu sein, um nicht innerlich träge zu werden, indem man sich rein rezeptiv verhält, Dinge hortet oder einfach seine Zeit totschlägt, das ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Praxis der Kunst des Liebens. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne sein Leben so einteilen, dass man im Bereich der Liebe produktiv und in allen anderen nicht­produktiv sein könne. Produktivität lässt eine derartige Ar­beitsteilung nicht zu. Die Fähigkeit zu lieben erfordert ei­nen Zustand intensiver Wachheit und gesteigerter Vitalität, der nur das Ergebnis einer produktiven und tätigen Orien­tierung in vielen anderen Lebensbereichen sein kann. Ist man auf anderen Gebieten nicht-produktiv, so ist man es auch nicht in der Liebe.