Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 13


Hier stellt sich jedoch eine wichtige Frage. Wenn unsere gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Organisation darauf basiert, dass jeder den eigenen Vorteil sucht, wenn sie von dem lediglich durch den Grundsatz der Fairness ge­milderten Prinzip des Egoismus beherrscht wird, wie kann man dann im Rahmen unserer bestehenden Gesellschafts­ordnung leben und wirken und gleichzeitig Liebe üben? Bedeutet denn letzteres nicht, dass man alle weltlichen In­teressen aufgeben und in völliger Armut leben sollte? Christliche Mönche und Menschen wie Leo Tolstoi, Albert Schweitzer und Simone Weil haben diese Frage gestellt und auf radikale Weise beantwortet. Es gibt andere, die die Mei­nung teilen, dass Liebe und normales weltliches Leben in unserer Gesellschaft miteinander unvereinbar sind. (Vgl. H. Marcuse, 1955.) Sie kommen zu dem Ergebnis, dass, wer heute von der Liebe rede, sich nur am allgemeinen Schwindel beteilige; sie behaupten, nur ein Märtyrer oder ein Verrückter könne in der heutigen Welt lieben und des­halb seien alle Diskussionen über die Liebe nichts als gut ge­meinte Predigt. Dieser sehr respektable Standpunkt kann aber leicht zur Rationalisierung des eigenen Zynismus die­nen. Tatsächlich steckt er hinter der Auffassung des Durch­schnittsbürgers, der das Gefühl hat: »Ich wäre ja recht gern ein guter Christ – aber wenn ich damit ernst machte, müsste ich verhungern.« Dieser »Radikalismus« läuft auf einen moralischen Nihilismus hinaus. Ein solcher »radikaler Den­ker« ist genau wie der Durchschnittsbürger ein liebes unfä­higer Automat, und der einzige Unterschied zwischen beiden ist der, dass letzterer es nicht merkt, während erster es weiß und darin eine »historische Notwendigkeit« sieht. Ich bin der Überzeugung, dass die absolute Unver­einbarkeit von Liebe und »normalem« Leben nur in einem abstrakten Sinn richtig ist. Unvereinbar miteinander sind das der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zugrunde lie­gende Prinzip und das Prinzip der Liebe. Aber konkret ge­sehen, ist die moderne Gesellschaft ein komplexes Phäno­men. Der Verkäufer einer unbrauchbaren Ware kann zum Beispiel wirtschaftlich nicht existieren, wenn er nicht lügt; ein geschickter Arbeiter, ein Chemiker oder Physiker aber kann das durchaus. In ähnlicher Weise können Bauern, Ar­beiter, Lehrer und Geschäftsleute vieler Art durchaus ver­suchen, Liebe zu praktizieren, ohne hierdurch in wirt­schaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Selbst wenn man erkannt hat, dass das Prinzip des Kapitalismus mit dem Prin­zip der Liebe an sich unvereinbar ist, muss man doch ein­räumen, dass der »Kapitalismus« selbst eine komplexe, sich ständig verändernde Struktur hat, in der immer noch recht viel Nicht-Konformität und persönlicher Spielraum mög­lich sind.

Damit möchte ich allerdings nicht den Eindruck erwecken, als ob wir damit rechnen könnten, dass unser gegen­wärtiges Gesellschaftssystem in alle Ewigkeit fortdauern wird und dass wir gleichzeitig auf die Verwirklichung des Ideals der Nächstenliebe hoffen können. Menschen, die unter unserem gegenwärtigen System zur Liebe fähig sind, bilden in jedem Fall die Ausnahme. Liebe ist zwangsweise eine Randerscheinung in der heutigen westlichen Gesell­schaft, und das nicht so sehr, weil viele Tätigkeiten eine lie­bevolle Einstellung ausschließen, sondern weil in unserer hauptsächlich auf Produktion eingestellten, nach Gebrauchsgütern gierenden Gesellschaft nur der Nonkonformist sich erfolgreich gegen diesen Geist zur Wehr setzen kann.