Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 1


Was für die Maschine gut ist, muss auch für den Menschen gut sein – so lautet der logische Schluss. Der moderne Mensch meint, er würde etwas verlieren – nämlich Zeit -, wenn er nicht alles schnell erledigt; und dann weiß er nicht, was er mit der ge­wonnenen Zeit anfangen soll – und er schlägt sie tot. Schließlich gehört auch noch zu den Vorbedingungen für die Erlernung einer Kunst, dass es einem sehr wichtig ist, darin Meister zu werden. Wenn die Kunst dem Lehrling nicht von großer Wichtigkeit ist, wird er sie nie erlernen. Er wird bestenfalls ein guter Dilettant, aber niemals ein Mei­ster darin werden. Es ist dies auch für die Kunst der Liebe eine ebenso wichtige Vorbedingung wie für jede andere Kunst. Es sieht aber so aus, als ob in der Kunst des Liebens noch mehr als in anderen Künsten die Dilettanten gegen­über den Meistern in der Überzahl wären. Im Hinblick auf die allgemeinen Voraussetzungen für die Erlernung einer Kunst ist noch ein weiterer Punkt zu erwähnen. Man lernt anfangs eine Kunst nicht direkt, son­dern sozusagen auf indirekte Weise. Man muss oft zuerst eine große Anzahl anderer Dinge lernen, die scheinbar nur wenig damit zu tun haben, bevor man mit der eigentlichen Kunst anfängt. Ein Tischlehrlehrling lernt zunächst einmal hobeln; ein angehender Pianist übt zunächst Tonleitern; ein Lehrling in der Zen-Kunst des Bogenschießens fängt mit Atemübungen an. (Um ein Bild von der Konzentrati­on, Disziplin, Geduld und Hingabe zu gewinnen, die zur Erlernung einer Kunst erforderlich sind, möchte ich den Leser auf Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens [E. Herrigel, 1960] hinweisen.) Wenn man in irgendeiner Kunst zur Meisterschaft gelangen will, muss man ihr sein ganzes Leben widmen oder es doch wenigstens darauf aus richten. Unsere gesamte Persönlichkeit muss zu einem In­strument zur Ausübung der Kunst werden und muss je nach den speziellen Funktionen, die es zu erfüllen gilt, in Form gehalten werden. Bezüglich der Kunst des Liebens bedeutet das, dass jeder, der ein Meister in dieser Kunst werden möchte, in jeder Phase seines Lebens Disziplin, Konzentration und Geduld praktisch üben muss.

Erich Fromm