Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 14


Wem also die Liebe als einzige vernünftige Lösung des Problems der menschlichen Existenz am Herzen liegt, der muss zu dem Schluss kommen, dass in unserer Gesellschaftsstruktur wichtige und radikale Veränderungen vor­genommen werden müssen, wenn die Liebe zu einem gesellschaftlichen Phänomen werden und nicht eine höchst individuelle Randerscheinung bleiben soll. In welcher Richtung derartige Veränderungen vorgenommen werden könnten, kann hier nur angedeutet werden. (In The Sane Society [1955 a] habe ich mich mit diesem Problem ausführ­lich befaßt.) Unsere Gesellschaft wird von einer Manager-Bürokratie und von Berufspolitikern geleitet; die Men­schen werden durch Massensuggestion motiviert; ihr Ziel ist, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren, und zwar als Selbstzweck. Sämtliche Aktivitäten werden diesen wirtschaftlichen Zielen untergeordnet; die Mittel sind zum Zweck geworden; der Mensch ist ein gut genährter, gut ge­kleideter Automat, den es überhaupt nicht mehr interes­siert, welche menschlichen Qualitäten und Aufgaben ihm eignen. Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschafts­apparat muss ihm dienen, und nicht er ihm. Er muss am Arbeitsprozess aktiven Anteil nehmen, anstatt nur bestenfalls am Profit beteiligt zu sein. Die Gesellschaft muss so organi­siert werden, dass die soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, son­dern mit ihr eins wird. Wenn das, was ich zu zeigen versuch­te, zutrifft – dass nämlich die Liebe die einzig vernünftige und befriedigende Lösung des Problems der menschlichen Existenz darstellt -, dann muss jede Gesellschaft, welche die Entwicklung der Liebe so gut wie unmöglich macht, auf die Dauer an ihrem Widerspruch zu den grundlegenden Be­dürfnissen der menschlichen Natur zugrunde gehen. Wenn man von der Liebe spricht, ist das keine »Predigt«, denn es geht dabei um das tiefste, realste Bedürfnis eines jeden menschlichen Wesens. dass dieses Bedürfnis so völlig in den Schatten gerückt ist, heißt nicht, dass es nicht existiert. Das Wesen der Liebe zu analysieren heißt, ihr allgemeines Feh­len heute aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedin­gungen Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind. Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als einem gesellschaft­lichen Phänomen und nicht nur als einer individuellen Aus­nahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.

Ende