Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 12


Eine Diskussion der Kunst des Liebens darf sich nicht auf den persönlichen Bereich beschränken, wo jene Merkmale und Haltungen erworben und weiterentwickelt werden, die wir in diesem Kapitel beschrieben haben. Sie hängt un­trennbar mit dem gesellschaftlichen Bereich zusammen. Wenn lieben soviel heißt wie gegenüber einem jeden eine liebevolle Haltung einnehmen, wenn Liebe ein Charakter­zug ist, dann muss sie notwendigerweise nicht nur in unse­ren Beziehungen zu unserer Familie und zu unseren Freunden, sondern auch in den Beziehungen zu all jenen zu finden sein, mit denen wir durch unsere Arbeit, unser Geschäft oder unseren Beruf in Kontakt kommen. Es gibt keine »Arbeitsteilung« zwischen der Liebe zu den eigenen Angehörigen und der Liebe zu Fremden. Ganz im Gegen­teil ist letztere die Vorbedingung für erstere. Würde man diese Einsicht ernst nehmen, so würde das in der Tat eine recht drastische Veränderung in unseren gewohnten sozia­len Beziehungen bedeuten. Während wir viel vom religiö­sen Ideal der Nächstenliebe reden, werden unsere Bezie­hungen in Wirklichkeit bestenfalls vom Grundsatz der Fairness geleitet. Fairness bedeutet soviel wie auf Betrug und Tricks beim Austausch von Gebrauchsgütern und Dienstleistungen wie auch beim Austausch von Gefühlen zu verzichten. »Ich gebe dir eben soviel, wie du mir gibst« -materielle Güter oder Liebe -: So lautet die oberste Maxi­me der kapitalistischen Moral. Man könnte sagen, dass die Entwicklung der Fairness-Ethik der besondere ethische Beitrag der kapitalistischen Gesellschaft ist.
Die Gründe hierfür sind im Wesen des Kapitalismus zu suchen. In den vor kapitalistischen Gesellschaften bestimm­ten nackte Gewalt, Tradition oder persönliche Bande der Liebe und Freundschaft den Güteraustausch. Im Kapitalis­mus ist der alles bestimmende Faktor der Austausch auf dem Markt. Ob es sich um den Warenmarkt, um den Arbeits­markt oder den Dienstleistungsmarkt handelt – jeder tauscht das, was er zu verkaufen hat, zu den jeweiligen Marktbedingungen ohne Anwendung von Gewalt und ohne Betrug gegen das, was er zu erwerben wünscht.
Die-Fairness-Ethik ist leicht mit der Ethik der Goldenen Regel zu verwechseln. Die Maxime: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu« kann man so auslegen, als bedeute sie: »Sei fair in deinem Tauschge­schäft mit anderen«. Tatsächlich jedoch handelte es sich da­bei ursprünglich um eine volkstümliche Formulierung des biblischen Gebots: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. In Wirklichkeit ist dieses jüdisch-christliche Gebot der Nächstenliebe etwas völlig anderes als die Fairness-Ethik. »Seinen Nächsten lieben« heißt, sich für ihn verant­wortlich und sich eins mit ihm zu fühlen, während die Fairness-Ethik das Ziel verfolgt, sich nicht verantwortlich für ihn und eins mit ihm zu fühlen, sondern von ihm getrennt und distanziert zu sein; sie bedeutet, dass man zwar die Rechte seines Nächsten respektiert, nicht aber, dass man ihn liebt. Es ist kein Zufall, dass die Goldene Regel heute zur populärsten religiösen Maxime geworden ist. Weil man sie nämlich im Sinn der Fairness-Ethik interpretieren kann, ist es die einzige religiöse Maxime, die ein jeder versteht und die ein jeder zu praktizieren bereit ist. Aber wenn man Lie­be praktizieren will, muss man erst einmal den Unterschied zwischen Fairness und Liebe begriffen haben.