Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 5


Der Durchschnittsmensch hat ein gewisses Gespür für die Prozesse, die sich in seinem Körper abspielen; er be­merkt Veränderungen, selbst einen geringfügigen Schmerz; zu dieser Art von körperlichem Gespür kommt es relativ leicht, da die meisten Menschen eine Vorstellung da­von haben, wie man sich fühlt, wenn es einem gut geht. Das gleiche Gespür in Bezug auf geistige Prozesse ist weit selte­ner, da die meisten Menschen niemals jemand kennenge­lernt haben, der optimal funktioniert. Sie nehmen die Art, wie ihre Eltern und Verwandten oder die gesellschaftliche Gruppe, in die sie hin eingeboren wurden, seelisch funktio­nieren, für die Norm, und solange sie selbst nicht davon ab­weichen, haben sie das Gefühl, normal zu sein, und haben kein Interesse daran, zu beobachten. So gibt es zum Bei­spiel viele, die noch nie einen liebenden Menschen oder ei­nen Menschen gesehen haben, der Integrität, Mut oder Konzentrationsfähigkeit besitzt. Es liegt auf der Hand, dass man, um für sich selbst ein Gespür zu bekommen, eine Vor­stellung davon haben muss, was unter dem vollkommen ge­sunden Funktionieren eines Menschen zu verstehen ist und wie soll man zu dieser Erfahrung gelangen, wenn man sie in seiner Kindheit oder im späteren Leben nie gemacht hat? Diese Frage ist gewiss nicht einfach zu beantworten, aber sie weist auf einen sehr kritischen Punkt in unserem Erziehungssystem hin.
Über der Vermittlung von Wissen geht uns jene Art zu Lehren verloren, die für die menschliche Entwicklung am allerwichtigsten ist: die einfache Gegenwart eines reifen, lie­benden Menschen. In früheren Epochen unserer Kultur oder in China und Indien schätzte man einen Menschen mit hervorragenden seelischen und geistigen Eigenschaf­ten am höchsten. Auch der Lehrer hatte nicht in erster Li­nie die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sondern er sollte bestimmte menschliche Haltungen lehren. In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft – und dasselbe gilt auch für den russischen Kommunismus – werden keineswegs Men­schen mit hervorragenden geistigen und seelischen Quali­täten als Gegenstand unserer Bewunderung und als Vorbild hingestellt. Im Licht der Öffentlichkeit stehen im wesentli­chen Leute, die dem Durchschnittsbürger stellvertretend ein Gefühl der Befriedigung geben. Filmstars, Showmaster, Kolumnisten, einflussreiche Geschäftsleute oder Spitzen­politiker – das sind die Vorbilder, denen wir nacheifern. Ihre Hauptqualifikation besteht oft darin, dass es ihnen ge­lungen ist, in der Öffentlichkeit von sich reden zu machen. Aber die Lage erscheint trotzdem nicht ganz hoffnungslos. Wenn man bedenkt, dass ein Mann wie Albert Schweitzer in den Vereinigten Staaten berühmt werden konnte, wenn man sich klarmacht, wie viele Möglichkeiten wir haben, un­sere Jugend mit lebenden und historischen Persönlichkei­ten bekannt zu machen, die zeigen, was menschliche Wesen als menschliche Wesen und nicht als Entertainer im weitesten Sinn vollbringen können, wenn man an die großen Werke von Literatur und Kunst aller Zeiten denkt, so scheint es doch noch eine Chance zu geben, dass wir uns die Vision einer guten Zukunft des Menschen erhalten und dass wir sensibel dafür bleiben, wenn der Mensch zu misslingen droht. Falls es uns nicht gelingen sollte, die Vision eines rei­fen Lebens lebendig zu halten, so besteht allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass unsere gesamte kulturelle Traditi­on zusammenbricht. Diese Tradition gründet sich nicht in erster Linie auf die Übermittlung bestimmter Arten von Wissen, sondern auf die Weitergabe bestimmter menschli­cher Wesenszüge. Wenn die kommenden Generationen diese Wesenszüge nicht mehr vor Augen haben, wird eine fünf tausendjährige Kultur zusammenbrechen, selbst dann, wenn ihr Wissen auch weiterhin gelehrt und weiterentwickelt wird.