Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 4


Auf andere konzentriert zu sein heißt vor allem, zuhören zu können. Die meisten hören sich an, was andere sagen, oder erteilen ihnen sogar Ratschläge, ohne ihnen wirklich zuzuhören. Sie nehmen das, was der andere sagt, nicht ernst, und genauso wenig ernst nehmen sie ihre eigenen Antworten. Die Folge ist, dass das Gespräch sie ermüdet. Sie bilden sich ein, es würde sie noch mehr ermüden, wenn sie konzentriert zuhörten, aber das Gegenteil trifft zu. Jede konzentriert ausgeführte Tätigkeit macht einen wach (wenn auch hinterher eine natürliche und wohltuende Mü­digkeit einsetzt), während jede unkonzentrierte Tätigkeit schläfrig macht und andererseits zur Folge hat, dass man abends dann schlecht ein schläft.

Konzentriert sein heißt ganz in der Gegenwart, im Hier und Jetzt leben und nicht, während man das eine tut, be­reits an das nächste denken, das anschließend zu tun ist. Es versteht sich von selbst, dass Konzentration vor allem von Menschen geübt werden muss, die sich lieben. Sie müssen lernen, einander nahe zu sein, ohne gleich irgendwie wie­der voneinander wegzulaufen, wie das gewöhnlich ge­schieht. Zu Anfang wird es schwer fallen, sich in der Konzentration zu üben; man wird das Gefühl haben, es werde einem nie gelingen. dass Geduld dazu nötig ist, braucht man kaum zu betonen. Wenn man nicht weiß, dass alles seine Zeit hat, und die Dinge erzwingen will, wird man freilich die Konzentration nie erlernen – auch nicht in der Kunst des Liebens. Wenn man sich eine Vorstellung davon machen will, was Geduld ist, braucht man nur ein Kind beim Laufen lernen zu beobachten. Es fällt hin und fällt im­mer und immer wieder hin und versucht es doch von neu­em; es gelingt ihm immer besser, bis es eines Tages laufen kann, ohne hinzufallen. Was könnte der Erwachsene alles fertigbringen, wenn er bei Dingen, die ihm wichtig sind, die Geduld und Konzentration eines Kindes hätte!

Man kann Konzentration nicht erlernen, wenn man sich kein Gespür für sich selbst erwirbt. Was heißt das? Sollte man die ganze Zeit über sich selbst nachdenken, sollte man sich selbst analysieren oder was sonst? Wenn wir sagen wollten, dass man für eine Maschine ein Gespür haben müsse, dürfte es uns kaum schwer fallen, zu erklären, was wir damit mei­nen. So hat zum Beispiel jeder, der einen Wagen fährt, ein Gespür für ihn. Er spürt auch das geringste ungewohnte Geräusch und die geringste Änderung im Beschleuni­gungsvermögen des Motors. Ebenso spürt der Fahrer jede Veränderung in der Fahrbahnoberfläche, und er spürt, was die Autos vor und hinter ihm machen. Über all das denkt er nicht nach; er befindet sich in einem Zustand entspannter Aufmerksamkeit, in dem er aufgeschlossen ist für alle rele­vanten Veränderungen der Situation, auf die er sich kon­zentriert – nämlich seinen Wagen sicher zu fahren.

Wenn wir uns nach einer Situation umsehen, wo ein Mensch ein Gespür für den anderen hat, so finden wir das deutlichste Beispiel im Verhältnis der Mutter zu ihrem Baby. Sie bemerkt gewisse körperliche Veränderungen, Wünsche und Nöte ihres Kindes bereits, bevor es diese of­fen äußert. Sie wacht auf, wenn das Kind schreit, während andere, viel lautere Geräusche sie nicht wecken würden. All das bedeutet, dass sie ein Gespür für die Lebensäußerungen ihres Kindes hat; sie ist nicht ängstlich oder besorgt, son­dern befindet sich in einem wachen Ruhezustand, in dem sie für jede bedeutsame Mitteilung, die von ihrem Kind kommt, aufnahmebereit ist. Auf gleiche Weise kann man auch für sich selbst ein Gespür haben. Man merkt zum Bei­spiel, dass man müde oder deprimiert ist, und anstatt die­sem Gefühl nachzugeben und es durch trübe Gedanken, die stets zur Hand sind, noch zu verstärken, fragt man sich: »Was ist mit mir los? Warum bin ich so deprimiert?« dassel­be geschieht, wenn man merkt, dass man irritiert oder är­gerlich ist oder dass man vor sich hin träumt und sonst wie vor etwas auf der Flucht ist. In allen diesen Fällen kommt es darauf an, die wahre Ursache zu spüren und nicht auf tau­senderlei Weise seine Zuflucht zu Rationalisierungen zu nehmen. Wir sollten auf unsere innere Stimme hören, die uns – oft recht schnell – sagt, weshalb wir so unruhig, depri­miert oder irritiert sind.