Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 7


Notorisch ist auch der Mangel an Objektivität in Bezug auf andere Völker. Von einem Tag zum anderen wird ein anderes Volk als höchst gemein und bösartig empfunden, während das eigene Volk alles, was nur gut und edel ist, ver­körpert. Alles, was der Feind tut, wird mit dem einen – alles, was man selbst tut, wird mit dem anderen Maßstab gemes­sen. Gute Taten des Feindes werden als besonders heimtückisch betrachtet, weil sie uns und die Welt angeblich hinters Licht führen sollen, während unsere eigenen Übeltaten notwendig und durch die edlen Ziele gerechtfertigt sind, denen sie angeblich dienen. Wenn man die Beziehungen zwischen den Völkern wie auch die zwischen einzelnen In­dividuen betrachtet, kommt man tatsächlich zu der Über­zeugung, dass Objektivität die Ausnahme und eine mehr oder weniger stark ausgeprägte narzisstische Entstellung die Regel ist.
Vernunft ist die Fähigkeit, objektiv zu denken. Die ihr zugrunde liegende emotionale Haltung ist die Demut. Man kann nur objektiv sein und sich seiner Vernunft bedienen, wenn man demütig geworden ist und seine Kindheitsträume von Allwissenheit und Allmacht überwunden hat.
Auf die Praxis der Kunst des Liebens bezogen, bedeutet dies: Da die Fähigkeit zu lieben davon abhängt, dass unser Narzissmus relativ gering ist, verlangt diese Kunst die Ent­wicklung von Demut, Objektivität und Vernunft. Wir müs­sen unser ganzes Leben darauf ausrichten. Demut und Objektivität sind ebenso unteilbar wie die Liebe. Ich kann meiner Familie gegenüber nicht wirklich objektiv sein, wenn ich es dem Fremden gegenüber nicht sein kann, und umgekehrt. Wenn ich die Kunst des Liebens lernen will, muss ich mich in jeder Situation um Objektivität bemühen und ein Gespür für solche Situationen bekommen, in de­nen ich nicht objektiv bin. Ich muss versuchen, den Unter­schied zu erkennen zwischen dem narzisstisch entstellten Bild, das ich mir von einem Menschen und seinem Verhal­ten mache, und dem wirklichen Menschen, wie er unab­hängig von meinen Interessen, Bedürfnissen und Ängsten existiert. Wenn man sich die Fähigkeit zu Objektivität und Vernunft erworben hat, hat man den Weg zur Kunst des Liebens schon halb zurückgelegt, aber man muss diese Fä­higkeit gegenüber allen Menschen besitzen, mit denen man in Kontakt kommt. Wenn jemand seine Objektivität nur für den geliebten Menschen reservieren wollte und meint, er könne in seinen Beziehungen zur übrigen Welt darauf verzichten, dann wird er bald merken, dass er hier wie dort versagt. Die Fähigkeit zur Liebe hängt davon ab, ob es uns gelingt, unseren Narzissmus und die inzestuöse Bindung an die Mutter und die Sippe zu überwinden. Sie hängt von unserer Fähigkeit ab, zu wachsen und eine pro­duktive Orientierung in unserer Beziehung zur Welt und zu uns selbst zu entwickeln. Dieser Prozess des Sichlösens, des Geborenwerdens, des Erwachens hat als unumgängli­che Voraussetzung den Glauben. Die Praxis der Kunst des Liebens erfordert die Praxis des Glaubens.
Was ist Glauben? muss es sich dabei unbedingt um den Glauben an Gott oder an religiöse Doktrinen handeln?