Liebe und Gesellschaft / Erich Fromm 9


Wir sind uns der Existenz eines Selbst, eines Kerns unserer Persön­lichkeit bewusst, der unveränderlich ist und unser ganzes Leben lang fortbesteht, wenn sich auch die äußeren Um­stände ändern mögen und wenn auch in unseren Meinun­gen und Gefühlen gewisse Änderungen eintreten. Dieser Kern ist die Realität hinter dem Wort »Ich«, auf der unsere Überzeugung von unserer Identität beruht. Wenn wir nicht an die Beständigkeit unseres Selbst glauben, gerät un­ser Identitätsgefühl in Gefahr, und wir werden von anderen Menschen abhängig, deren Zustimmung dann zur Grund­lage unseres Identitätsgefühls wird. Nur wer an sich selbst glaubt, kann anderen treu sein, weil nur ein solcher Mensch sicher sein kann, dass er auch in Zukunft noch derselbe sein wird wie heute und dass er deshalb genauso fühlen und han­deln wird, wie er das jetzt von uns erwartet. Der Glaube an uns selbst ist eine Voraussetzung dafür, dass wir etwas ver­sprechen können, und da der Mensch – wie F. Nietzsche (1910, S. 341) sagt – durch seine Fähigkeit, etwas verspre­chen zu können, definiert werden kann, ist der Glaube eine der Voraussetzungen der menschlichen Existenz. Worauf es in Liebesbeziehungen ankommt, ist der Glaube an die eige­ne Liebe, der Glaube an die Fähigkeit der eigenen Liebe, bei anderen Liebe hervorzurufen, und der Glaube an ihre Verlässlichkeit.
Ein weiterer Aspekt des Glaubens an einen anderen Men­schen bezieht sich darauf, dass wir an dessen Möglichkeiten glauben. Die rudimentärste Form, in der dieser Glaube exi­stiert, ist der Glaube der Mutter an ihr Neugeborenes: dass es leben, wachsen, laufen lernen und sprechen lernen wird. Freilich erfolgt die Entwicklung des Kindes in dieser Hin­sicht mit einer solchen Regelmäßigkeit, dass man wohl für die diesbezüglichen Erwartungen keinen besonderen Glauben braucht. Anders ist es mit den Fähigkeiten, die sich unter Umständen nicht entwickeln werden, wie etwa die Fähigkeit des Kindes, zu lieben, glücklich zu sein und seine Vernunft zu gebrauchen, wie auch spezielle künstleri­sche Begabungen. Sie sind die Saat, die wächst und die zum Vorschein kommt, wenn die richtigen Voraussetzungen für ihre Entwicklung gegeben sind, die aber auch im Kern er­stickt werden kann, wenn solche Voraussetzungen fehlen.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, dass die Be­zugsperson im Leben des Kindes an diese Entwicklungs­möglichkeiten glaubt. Ob dieser Glaube vorhanden ist oder nicht, macht den Unterschied aus zwischen Erziehung und Manipulation. Erziehen bedeutet, dem Kind zu helfen, sei­ne Möglichkeiten zu realisieren. (Das englische Wort edu-cation = Erziehung kommt vom lateinischen e-ducere, was wörtlich soviel bedeutet wie »herausführen« oder »etwas herausbringen, was potentiell bereits vorhanden ist«.) Das Gegenteil von Erziehung ist Manipulation, bei welcher der Erwachsene nicht an die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes glaubt und überzeugt ist, dass das Kind nur dann zu einem ordentlichen Menschen wird, wenn er ihm das, was er für wünschenswert hält, einprägt und alles unterdrückt, was ihm nicht wünschenswert scheint. An einen Roboter braucht man nicht zu glauben, weil in ihm kein Leben ist, das sich entfalten könnte.
Der Höhepunkt des Glaubens an andere wird im Glau­ben an die Menschheit erreicht. In der westlichen Welt kam dieser Glaube in der jüdisch-christlichen Religion zum Aus­druck, und in weltlicher Sprache fand er seinen stärksten Ausdruck in den humanistisch orientierten politischen und gesellschaftlichen Ideen der letzten hundert fünfzig Jahre. Genau wie der Glaube an ein Kind, gründet auch er sich auf die Idee, dass die dem Menschen gegebenen Möglichkeiten derart sind, dass er unter entsprechenden Bedingungen die Fähigkeit besitzt, eine von den Grundsätzen der Gleich­heit, Gerechtigkeit und Liebe getragene Gesellschaftsord­nung zu errichten. Noch ist dem Menschen der Aufbau einer solchen Gesellschaftsordnung nicht gelungen, und deshalb erfordert die Überzeugung, dass er dazu in der Lage sein wird, Glauben. Aber genau wie bei jeder Art von rationalem Glauben handelt es sich auch hier um kein Wunschdenken, sondern gründet sich auf die unleugbaren Leistungen der Menschheit in der Vergangenheit und auf die Erfahrungen, die jeder einzelne in seinem eigenen In­neren mit seiner Fähigkeit zu Vernunft und Liebe macht.